Grundrechte: Abwehrrechte oder Wertentscheidungen?
Mit dem Fünften Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 18. Juni 1974 wollte der Gesetzgeber die Strafbarkeit von Schwangerschaftsabbrüchen innerhalb der ersten drei Monate gänzlich abschaffen. Das Bundesverfassungsgericht urteilte am 25. Februar 1975, dieses Gesetz sei der verfassungsrechtlichen Verpflichtung, das werdende Leben zu schützen, nicht in dem gebotenen Umfang gerecht geworden (1 BvF 1, 2, 3, 4, 5, 6/74).
Zwei der Richter sahen dies anders und fügten dem Urteil ein Sondervotum bei (Rn. 206 ff). Sie sehen die Stellung der Verfassungsgerichtsbarkeit gefährdet, wenn das Bundesverfassungsgericht der Versuchung erliegt, selbst die Funktion des zu kontrollierenden Gesetzgebers zu übernehmen. Grundrechte seien Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe. Das Absehen von Strafe sei das Gegenteil eines Eingriffes und unterliege nicht verfassungsgerichtlicher Kontrolle.
In meiner Publikation Welche Bedeutung haben Grundrechte (nicht)? zeige ich auf, welche Auswirkungen es hat, dass eine Mehrheit der Verfassungsrichter das Wesen der Grundrechte verkannte, Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe zu sein.